Grenzen des Mitgefühls - Das Leid der anderen

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von graci, 25. Dezember 2008 .

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  1. 25. Dezember 2008
    DIE ZEIT, 17.12.2008 Nr. 52 [http://www.zeit.de/2008/52/Mitleid-Essay]

    Die palästinensischen Kinder in einem Flüchtlingslager ließen mich unberührt. Dass sie einen kleinen Hund quälten, brachte mich zur Wut. Ein Essay

    Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnten alles zwischen neun und dreizehn Jahren sein. Sie trugen zu kurze Hosen, die die Schuhe nicht mehr bedeckten, und zu lange Pullover, die die älteren Geschwister ausgetragen hatten. Sie waren Rumtreiber, Kinder, die während der unbewachten Stunden des Nachmittags ziellos durch die Straßen im Flüchtlingslager von Jenin stromerten, auf der Suche nach einer Ablenkung, nach irgendetwas, das diesen Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein erträglicher gestaltete.

    Und da muss er ihnen über den Weg gelaufen sein. Dieser kleine Hund. Keine acht Wochen alt. Sie hatten ihn an einen Strick gebunden und schleiften ihn hinter sich her. Ohne Halsband. Wer weiß, wem sie das abgeschaut hatten. Der grobe Strick schnürte dem zitternden Hund die Luft ab. Man konnte ihn japsen hören. Aus einigen Metern Entfernung schon. Es war ein Mischling, ein graugelber Hund mit etwas zu großen Pfoten, die ihm trotzdem keinen Halt auf dem Boden gaben. Der Welpe rutschte mehr, als dass er trippelte, er stemmte sich gegen das Ziehen, gegen das Ersticken, gegen die Tritte der Jungs, die ihn so über die Straße treiben wollten, aus Spaß, aus Zeitvertreib, aus Vergnügen an der Angst, die den kleinen Hund zucken ließ. Die Jungen rissen ihn so, dass er mit langgestrecktem Hals in der Luft hing und die Vorderbeine nicht mehr den Boden berühren konnten.

    Sie mussten sie doch sehen, die Panik im Blick des Welpen. Sie mussten doch hören, wie er fiepte. Sie mussten doch wissen, dass es ihm weh tat, wenn sie mit dem mitgebrachten Ast auf seinen Körper schlugen. Sie musste doch spüren, wie weich das flaumige Fell, wie jung diese Kreatur war.

    Ich bin auf sie losgegangen. Ich konnte nicht an mich halten. Ich konnte die Wehrlosigkeit des Welpen nicht ertragen. Ich bin nicht stolz darauf, denn ich habe alles falsch gemacht, was man in so einer Situation falsch machen kann.

    Was ihnen einfiele? Ich konnte die Stimme nicht kontrollieren. Ich schrie. Was ihnen einfiele, diesen Hund so zu schleifen? Was sie mit ihm wollten?

    Ich wusste die Antwort. Sie würden ihn quälen. Den ganzen Nachmittag lang. Vermutlich würden sie ihn ertränken. Oder so lange auf ihn einschlagen, bis er sich nicht mehr rührte. Sie waren zu dritt. Einer würde ihn halten, damit er keine Chance hätte, der Welpe, und die anderen würden ihn malträtieren.

    Sie standen mit dem Rücken zur Wand, und starrten auf Salwa, meine palästinensische Übersetzerin, die fast ebenso erschrocken über meinen Zorn war wie die Jungen und die meinen Ausbruch in der arabischen Übertragung vermutlich abmilderte – und sie lachten. Halb verlegen, halb aufmüpfig. Was ich denn von ihnen wollte? Was mich das Hündchen anginge? Das gehörte ihnen.

    Ich wurde immer wütender. Nicht nur über die Erbarmungslosigkeit dieser Jungs, sondern auch über meine eigene Ohnmacht: Ich wollte sie am liebsten verprügeln, mit richtiger Kraft auf sie einschlagen. Ich wollte ihnen weh tun, damit sie spürten, was sie diesem Tier antaten, das nun zwischen meinen Füßen kauerte, zitternd und bebend, und nicht wusste, das gerade über sein Leben verhandelt wurde.

    Die Jungs hatten ja Recht. Der Hund gehörte ihnen. Oder zumindest eher als mir. Wenn ich ihnen den Hund wegnähme, dann bestätigte ich ja nur das Gesetz der Gewalt der Gegend, das mich so aufbrachte.

    Salwa schaute mich an. Innerlich stand ich nun selbst mit dem Rücken zur Wand, ich bebte vor Zorn ungefähr so wie der Welpe vor Panik und wusste nicht, wie ich den Hund schützen sollte vor den Kindern.

    Warum schien mir selbstverständlich, was ihnen gar nicht selbstverständlich war: Mitleid? Wer war eigentlich verwerflicher in dieser Szene: sie, die kein Mitleid spürten, oder ich, die den Schmerz, den sie dem Hund zufügten, in sie hineinprügeln wollte?

    Bis heute schäme ich mich für diese Szene.

    Und doch frage ich mich auch, was es war, was mich so aufbrachte, wieso ich nicht fassen konnte, dass sie diesem Welpen solche Schmerzen zufügen mochten. Das konnte nur möglich sein, wenn sie nicht mitfühlen konnten.

    Wie konnte das gehen? War Mitleid denn keine natürliche Reaktion? Kein Impuls, der aus dem Anblick des Leidens eines anderen gleichsam automatisch hervorgeht? Gab es Grenzen des Mitleids? Welche?

    In der Geschichte vom barmherzigen Samariter, die uns von Kind an erzählt wird, sieht der Samariter den Verletzten am Boden liegen und erkennt das Leid sofort. Es ist kein Verwandter, der dort liegt, es ist ein Fremder, und der Samariter empfängt keinen Lohn für seine Hilfe. Im Gegenteil, er verbindet nicht nur die Wunden des Mannes, der »unter die Räuber gefallen war«, sondern er legt ihn auf sein Tier und bringt ihn zur nächsten Herberge, wo er ihn weiter pflegt. Als er abreist, gibt er dem Wirt, so geht die Geschichte, zwei Silbergroschen für die noch ausstehenden Kosten der Pflege. Er bezahlt also noch die Hilfe, die er dem anderen schenkt.

    Der Samariter, so wird es uns erzählt, hilft ohne Grund, es gibt kein eigennütziges Motiv für die Tat. Er sieht einfach einen Notleidenden, und auf die Not des anderen reagiert er, als wäre es seine eigene. So wird die Erzählung auch eingeleitet, als eine Erläuterung der Nächstenliebe, in der der Unterschied zwischen einem selbst und dem Nächsten aufgehoben wird, weil ich den Nächsten so behandeln und lieben solle wie mich selbst.

    Vielleicht war das der Fehler. Vielleicht hätte in der Erklärung für Mitleid, Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft das Eigene niemals auftauchen dürfen. Vielleicht hätten Mitleid und Solidarität, alle diese Begriffe, die sich auf das Leid eines anderen beziehen, immer schon entkoppelt sein müssen von mir selbst.

    Trotzdem versuchte ich genau das. Ich sagte zu den Jungen: Wenn sie das wären, da an dem Strick, würden sie das wollen, so gequält zu werden? Wenn sie mit dem Hund kein Mitleid hatten, so dachte ich intuitiv, dann musste ich ihre Vorstellungskraft animieren. Sie sollten sich vorstellen, mit ihnen würde das jemand machen. Wie fühlte sich das an?

    Sie hielten den Strick fest in der Hand und blieben stumm. Wenn wir geschlagen und gedemütigt werden, so sagten die Blicke der Kinder aus dem Flüchtlingslager von Jenin, dann kann dieser Welpe dieselbe Behandlung erfahren.

    Denn wenn für den Nächsten das gelten soll, was für mich selbst gilt, dann, so die stille Logik der Kinder, gilt für den Nächsten vielleicht auch nicht, was für mich nicht gilt.

    Und überhaupt: Dies war ein Hund. Kein Mensch.

    Erschwert das also das Mitleid? Ist es eine Frage der Ähnlichkeit, die mich den Nächsten überhaupt erst als Nächsten erkennen lässt, bevor ich sein Leid als meinem ebenbürtig anerkennen kann?

    Das würde erklären, warum alle Regime, die Menschen demütigen und misshandeln, sie vorher optisch verwandeln. Das würde erklären, warum Gefangene den Kopf geschoren bekommen, warum ihnen persönliche Zeichen genommen werden, warum sie aller Merkmale ihrer Individualität beraubt werden. Denn die so entstalteten Wesen können schwerer als Menschen wahrgenommen werden. Es erleichtert das Foltern, wenn das Opfer keinerlei Ähnlichkeit mit dem Folterer aufzuweisen scheint, wenn es nackt ist, nach Urin und Schweiß riecht, wenn es nur mehr den anderen Opfern ähnelt, aber nicht mir selbst. Das würde erklären, warum wir uns abwenden, wenn der, der in Not ist oder bedürftig, sabbert oder stammelt, stinkt oder nur mehr krabbeln kann, warum wir Ekel vorschieben, wenn eigentlich Mitleid angebracht wäre.

    Das würde erklären, warum die Gefangenen in Abu Ghraib Plastiksäcke aufgesetzt bekamen, warum sie auf dem Boden kriechen mussten, am Halsband, wie ein Tier. Das würde erklären, warum das Quälen leichter fällt, wenn derjenige, der misshandelt werden soll, in einem ersten Schritt ästhetisch so entmenschlicht wird, dass er sich mit mir gar nicht mehr vergleichen lässt.

    Ist sie das: die qualitative Grenze des Mitleids? Die Ähnlichkeit? Die Wiedererkennbarkeit?

    Das würde auch erklären, warum das berühmte Bild aus dem Lager von Trnopolje in Bosnien, auf dem die nackten, ausgemergelten Oberkörper muslimischer Gefangener zu sehen waren, solche Wirkung erzielen konnte auf die schockierte europäische Öffentlichkeit: Das Bild zitierte nicht nur die historischen Aufnahmen der knöchernen Insassen aus deutschen Konzentrationslagern, sondern die Menschen auf diesen Bildern sahen auch noch uns ähnlich. Hätte ein Bild mit weniger blonden Opfern dieselbe Wirkung erzielt?

    Das würde auch erklären, warum das scheinbar grenzenlose Mitleid mit den Opfern des Tsunamis so grenzenlos vielleicht doch nicht war: Das Leiden war eben kein Leiden der anderen, sondern der eigenen Freunde und Bekannten, die als Touristen zu Opfern geworden waren.

    Und ist sie das: die quantitative Grenze des Mitleids? Die rein praktische Unmöglichkeit, auf all die Bilder, die uns jeden Tag aus allen Teilen der Welt übermittelt werden, zu reagieren? Wer hielte das aus, das unbegrenzte Mitleid?

    Das würde erklären, warum wir immun werden mit der Zeit, warum uns die Bilder inszeniert erscheinen – auch wenn sie es nicht sind, warum wir die Ästhetisierung des Leids beklagen anstatt das Leid selbst. Das würde erklären, warum wir nur die personalisierten Geschichten lesen und sehen wollen, weil wir uns so darüber betrügen können, dass das Leid individuell und punktuell sei – auch wenn es kollektiv und strukturell ist.

    Und das würde erklären, warum wir Mitleid mittlerweile belächeln als emphatische Empfindung. An sie darf zu Weihnachten gemahnt werden, in sentimentaler Erinnerung an jene Zeiten, in denen die Welt noch so homogen und begrenzt war, dass die Nächsten uns ähnlich und überschaubar erscheinen konnten.

    Wenn sie also ausgemacht sind, die Grenzen des Mitleids, die der Ähnlichkeit und die der Unendlichkeit, warum geben wir es dann nicht auf? Den Anspruch und die Erwartung, dass es das geben müsste, Einfühlung in das Leiden des anderen?

    Ich stand vor den Jungen an der schmutzigen Mauer, und keiner von uns bewegte sich. Wir wussten keinen Ausweg. Welche Erklärung hätte ich geben können, die sie verstünden? Welche Worte würden sie erweichen? Wie hätte ich den Zorn zügeln können, ohne ihnen den Eindruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Welpen zu vermitteln?

    Ich habe deutsch gesprochen. Ganz plötzlich, mehr unbewusst als bewusst, wechselte ich vom Englischen ins Deutsche. Alles, was ich sagen wollte, alles, was ich unverzeihlich fand an ihrem Verhalten, ganz gleich, was sie selbst erlitten hatten, ganz gleich, wie gewohnt sie waren an die Gewalt, die sie da gerade ausübten, ganz gleich, wie klein sie waren, ganz gleich, ob dies ein Hund und kein Mensch war.

    Sie staunten. Ungläubig schauten sie zwischen Salwa und mir hin und her, bis sie begriffen, dass es für diese Sprache keine Übersetzung geben würde. Und erst jetzt, da sie nichts mehr verstehen konnten, schienen sie zum ersten Mal zu begreifen. Da war eine Fremde, mehr verzweifelt als wütend, für die spielte es eine Rolle, was sie taten, für die war es nicht gleichgültig, die regte sich auf, weil sie etwas nicht begriffen, die wollte ihnen nicht etwas wegnehmen, sondern etwas geben: das Gefühl, wie es ist, sich für ein anderes Wesen zu interessieren.

    Ich weiß nicht, was aus dem Hund geworden ist. Manchmal fürchte ich, ich hätte dem Tier nur geschadet. Manchmal fürchte ich, die Kinder könnten es aus Rache an der Angst, die ich ihnen eingejagt hatte, getötet haben. Manchmal frage ich mich, ob ich sie nicht doch einfach hätte verprügeln und den Hund befreien sollen.

    Aber dann hoffe ich, dass sie mein Mitleid gespürt haben. Nicht nur mit dem Welpen. Sondern mit ihnen. Und ich hoffe, dass sie ihn laufen gelassen haben, den Hund. Nicht nur seinetwegen, sondern ihretwegen.


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    schöner Bericht, fand den Absetz gut vorstellend, als sie vom englischen ins Deutsche übergegangen ist. Kann mir sehr gut vorstellen, dass die Jungs sie verstanden haben ohne ein Wort zu verstehen. Sie haben ihre Gefühle verstanden.
     
  2. 25. Dezember 2008
    AW: Grenzen des Mitgefühls - Das Leid der anderen

    Habs mir durchglesen und meine Augen tun weh^^

    b2t:

    Finde ich schön Philosophisch, jedoch glaube ich nicht wirklich das die Jungs was daraus gelernt haben. Viel kann man dazu aber nicht sagen meiner Meinung nach. Ich persönlich hätte aber etwas härter reagiert.

    Ich glaube kaum das Reden bei soetwas hilft
     
  3. 25. Dezember 2008
    AW: Grenzen des Mitgefühls - Das Leid der anderen

    so dinge gibt es leider überall, da muss man nichtmal bis nach palästina, afrika oder sonswo reisen, nein, auch unsere kinder, in diesem land, und in anderen europäischen, bzw den westlichen, "zivilisierten" ländern tun dies.

    erklärungen dafür zu finden ist schwer, vllt wollen sie mal spüren, wie es ist, die macht über etwas zu haben, mit etwas tun und lassen zu können was sie wollen. und das es etwas lebendiges ist, gibt ihnen einen besonderen kick. vielleicht wollen sie auch einfach nur spaß haben, und verstehen selber nicht, wie es ist, so behandelt zu werden.

    oder vielleicht haben sie einfach nur falsche vorbilder. da würde dann schon eher das bsp eines staates im krieg, bzw eines besonderen status staates passen, dort werden ihnen bsp geliefert. was ihre großen brüder an menschen durchführen, geschied im kleinen an tieren.

    aber ein sehr schöner text, der verdeutlicht, wie unsere "wetsliche zivilisation" vor aufschreckt, wenn in unmittelbarer umgebung dinge passieren, die man zuhause nie gesehen hat, und folglich für undenkbar hält.
     
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