#1 26. Juni 2011 Favoritentausch 08.06.2011 SANAA/BERLIN (Eigener Bericht) - Nach den Spekulationen des Berliner Verteidigungsministers über eine mögliche Intervention der Bundeswehr im Jemen spitzt sich die Lage in dem Land weiter zu. Zwar hofft der Westen, die Situation nach der Ausreise des Staatspräsidenten Ali Abdullah Salih mit Hilfe Saudi-Arabiens stabilisieren zu können. Salih war lange Zeit vom Westen in Sanaa an der Macht gehalten worden, hatte die Unterstützung aber zuletzt verloren - es gelang ihm nicht mehr, den Jemen unter Kontrolle zu halten, was für den Westen jedoch aus geostrategischen Erwägungen wichtig ist. Enge Verwandte Salihs, denen Spezialeinheiten des Militärs unterstehen, befinden sich allerdings nach wie vor im Land; schwere bewaffnete Auseinandersetzungen halten an. Beobachter ziehen inzwischen Vergleiche zwischen dem Jemen und Afghanistan. Großbritannien hat bereits Truppen in Stellung gebracht, angeblich mit dem Ziel, im Notfall britische Staatsbürger evakuieren zu können. Auch die deutsche Kriegsmarine kreuzt unweit des Jemen - am Horn von Afrika. Käme es zum Bürgerkrieg in dem Land, dann stünden Truppen Salihs, des alten westlichen Parteigängers, den Milizen eines Clans gegenüber, den der Westen inzwischen zum neuen Favoriten auszuwählen scheint. Deutsche Waffen sind in den vergangenen Jahren zahlreich in den Jemen geliefert worden; Militärs wurden durch deutsche Soldaten trainiert. Die Bundeswehr ist darüber hinaus nicht nur an der jemenitischen Küste mit Marineschiffen präsent, sondern auch mit einer "Beratergruppe" in der Hauptstadt Sanaa. Strategisch wichtig Die Kontrolle über den Jemen nimmt in den strategischen Konzeptionen des Westens einen hohen Stellenwert ein. Das Land liegt auf dem Weg aus dem Indischen Ozean in Richtung Suezkanal; die jemenitische Küste muss streifen, wer, aus Ostasien oder auch aus dem Mittleren Osten kommend, per Schiff die EU erreichen will. Das trifft auf große Teile der europäischen Handelsschifffahrt zu, aber auch auf Kriegsschiffe der NATO- Marinen, die von europäischen Gefilden aus regelmäßig in die Einsatzgebiete am Horn von Afrika oder in den Persischen Golf fahren. Dementsprechend legt der Westen seit je erheblichen Wert darauf, in Sanaa nichts aus dem Ruder laufen zu lassen. Bisher hat Staatspräsident Salih Stellvertreterfunktionen für den Westen ausgeübt und sich dabei auch für den sogenannten Anti-Terror-Kampf zur Verfügung gestellt.[1] Jetzt allerdings hat er die Kontrolle über das Land verloren. Ursache sind nicht so sehr die Massendemonstrationen junger Menschen, die schon seit Januar Salihs Rücktritt fordern, sondern vielmehr Differenzen in den jemenitischen Eliten, die sich über den Nachfolger des alternden Staatspräsidenten streiten. Mit Salih, der einen Verwandten ins Amt hieven will, rivalisiert seit geraumer Zeit der mächtige al Ahmar-Clan. Salihs Unvermögen, die Massendemonstrationen zu befrieden, hat den al Ahmar-Clan mittlerweile dazu veranlasst, die Schwäche des Rivalen zu nutzen und den offenen Aufstand zu wagen. Fallengelassen Der Westen hätte gegen eine Machtübergabe an den al Ahmar-Clan prinzipiell nichts einzuwenden. Der Clan steht dem saudischen Herrscherhaus der al Saud nahe, das sich als loyaler Statthalter des Westens in den mittelöstlichen Ressourcengebieten bewährt. Riad hat mehrfach versucht, Salih zu einem Amtsverzicht und raschen Neuwahlen zu bewegen, bei denen dem al Ahmar-Clan aufgrund seiner Größe eine Mehrheit in Aussicht stünde. Da Salih das Land nicht mehr kontrolliert, hat ihm der Westen seine bisherige Unterstützung entzogen. Wiederholt hat der deutsche Außenminister inzwischen verlangt, Salih solle zurücktreten. Als Begründung nennt Berlin stets die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, welche die staatlichen Repressionsapparate bei ihrem Kampf gegen die Protestdemonstrationen begangen haben. Das lässt erneut den Willkürcharakter der deutschen Menschenrechtspolitik erkennen: Die brutale Repression des Salih-Regimes, die schon lange von Menschenrechtsorganisationen beklagt wird, hatte in den Jahren zuvor keine Proteste seitens der Bundesrepublik ausgelöst. Salih ist nun nach einem Attentat in ein Krankenhaus in Saudi-Arabien ausgeflogen worden; Beobachter bezweifeln, dass Riad ihn in den Jemen zurückreisen lässt. Salih hat sich geweigert, vor seiner Ausreise eine Rücktrittserklärung zu unterzeichnen; dies hatte unter anderem der US-Botschafter in Sanaa von ihm verlangt. Spezialtruppen Die Lage wird erheblich verkompliziert durch die vielfältigen Relikte der bisherigen westlichen Einflusspolitik im Jemen. So haben etwa die USA und die Bundesrepublik den Jemen während der vergangenen Jahre kräftig aufgerüstet und militärische Aufbauarbeit geleistet. US-Ausbilder waren in Sanaa im Einsatz, die Bundeswehr unterhält eine "Beratergruppe" dort. Über die US-Aktivitäten berichtet der Berliner Mittelostexperte Guido Steinberg, ehedem Mitarbeiter im Bundeskanzleramt, Washington habe seit 2008 Spezialtruppen trainiert, die im sogenannten Anti-Terror-Kampf genutzt wurden. Salih habe diese Einheiten allerdings angesichts der brüchigen Machtverhältnisse in Sanaa einem seiner Söhne unterstellt. Nun, da es ihm "um den Schutz seines Regimes" gehe, würden die Spezialtruppen "tatsächlich zu Präsident Salihs Schutz in Sanaa eingesetzt".[2] Salihs Söhne sowie weitere enge Verwandte, die Befehlspositionen im Militär innehaben, sind nicht mit ihm nach Riad ausgereist und stehen für einen Bürgerkrieg bereit. Ihr Gegner wäre nach Lage der Dinge der al Ahmar-Clan - die möglicherweise neuen Favoriten des Westens. Deutsche Waffen Sollte es zum Bürgerkrieg kommen, dann stünden zumindest einer der beiden Kriegsparteien auch deutsche Waffen zur Verfügung. Bekannt ist, dass Berlin in den Jahren 2000 und 2001 den Verkauf von Schusswaffen, Munition und Fallschirmen im Wert von rund 3,5 Millionen Euro genehmigte. Von 2004 bis 2008 folgten Genehmigungen im Wert von gut neun Millionen Euro; geliefert wurden diesmal Fallschirme, Geländewagen und Panzertransporter.[3] Auch erhielten jemenitische Militärs sogenannte Ausbildungshilfe durch die Bundeswehr. Spätestens seit dem Jahr 2000 findet diese mit großer Regelmäßigkeit statt. Sie kommt nicht nur Sanitätern, sondern auch Offiziersanwärtern und Bataillonskommandeuren (Panzertruppe, Logistik) zugute; mehrfach nahmen jemenitische Militärs an der internationalen Generalstabsausbildung der Bundeswehr teil.[4] Im Falle eines Bürgerkriegs käme noch hinzu, dass auch jemenitische Polizisten seit 2005 durch deutsche Polizeikräfte geschult wurden - unter anderem in Sachen "polizeiliche Einsatztaktiken und Methoden". Ihnen stehen auch deutsche Gerätschaften zur Verfügung: Sie wurden mit "Einsatz- und Kommunikationsmitteln" aus der Bundesrepublik versorgt.[5] Intervention Dass in dieser höchst diffizilen Lage Saudi-Arabien Ordnungstätigkeiten im Jemen übernimmt und nicht nur Verhandlungslösungen sucht, sondern auch Präsident Salih außer Landes gebracht hat, ist für den Westen äußerst nützlich: Die saudische Einmischung wird in Sanaa noch eher akzeptiert als Interventionen aus Washington oder Berlin. Da sich die Lage im Jemen jedoch dramatisch zuspitzt, wird mittlerweile trotzdem immer lauter über einen westlichen Militäreinsatz dort diskutiert. Erst vor kurzem hat der deutsche Verteidigungsminister eine Intervention der Bundeswehr in dem Land nicht ausgeschlossen.[6] Britische Spezialeinheiten halten sich inzwischen für einen Eingriff bereit, angeblich, um Staatsbürger Großbritanniens und eventuell auch anderer EU- Länder zu evakuieren. In Washington wird zwar, ebenso wie in Libyen, der Einsatz von Bodentruppen zur Zeit abgelehnt, doch haben die US-Streitkräfte schon in der Vergangenheit Raketen- und Drohnenangriffe auf den Jemen geführt. Versänken dort der alte und die neuen Favoriten des Westens im Bürgerkrieg, dann wären beide Flanken der sehr wichtigen Zufahrt aus dem Indischen Ozean in den Suezkanal - dem Jemen gegenüber liegt Somalia - gänzlich außer Kontrolle. Einen solchen Zustand wird der immer stärker vom Ostasiengeschäft abhängige Westen kaum hinnehmen, will er einen Verlust an Macht und Einfluss vermeiden. Dies gilt ohne Abstriche auch für Berlin. [1] s. dazu Die neue Front und Die neue Front (II) [2] "Im Jemen hat al-Qaida keine Option, sich einer größeren Aufstandsbewegung anzuschließen"; Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) - SWP 06.04.2011 [3] s. dazu Die Folgen der Repression [4] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Deutscher Bundestag Drucksache 17/5430 vom 26.04.2011 [5] s. dazu Die Folgen der Repression [6] s. dazu Clausewitz reloaded Quelle: German Foreign Policy --------- Gute Aussichten für Kriegsfirmen und Waffenschmieden Der alte Statthalter hat die Lage nicht mehr unter Kontrolle. Die potenziellen Nachfolger wittern ihre Chance. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn das Machtspiel allein unter den jeweiligen Kontrahenten ausgetragen wird. Doch die Leidtragenden sind wie immer die unbeteiligten Zivilisten. Irgendwie kommt die Bundeswehr-Reform zu spät, aus machtpolitischer Sicht. Man hätte soviel zu tun! Die angepeilte Zahl von 10.000 Streitkräften für den Auslandseinsatz erscheinen da fast schon mickrig. Neues Streitgerät müsste natürlich auch her... + Multi-Zitat Zitieren