Showdown im deutschen Machtpoker am 28./29. Juni 2012: Alles oder nichts

Dieses Thema im Forum "Politik, Umwelt, Gesellschaft" wurde erstellt von Melcos, 26. Juni 2012 .

  1. 26. Juni 2012
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 13. April 2017
    Alles oder nichts 25.06.2012

    BERLIN
    (Eigener Bericht) - Wenige Tage vor dem EU-Krisengipfel Ende dieser Woche erhöht die Bundesregierung den Druck auf die krisengeschüttelten Euroländer zur Preisgabe ihrer staatlichen Souveränität. Forderungen Italiens, auch ohne Souveränitätsverlust dringend benötigte Hilfen zu bekommen, weist der deutsche Finanzminister brüsk zurück. Ähnliche Anstrengungen Spaniens hatte Berlin erst kürzlich unterbunden. Die Maßnahmen sind Teil eines umfassenden Programms, das unter dem Motto, die "europäische Integration" zu einem staatsähnlichen Eurozonen-Gebilde auszubauen, die deutsche Vormacht über den Kontinent zementieren soll - auf der Basis von Eingriffsrechten in die Staatshaushalte ökonomisch schwächerer Staaten. Weil der Machtpoker der Bundesregierung nicht nur die europäischen Krisenstaaten in die Verelendung stürzt, sondern auch die Weltwirtschaft schwer zu beschädigen droht, nehmen die Proteste gegen die Spardiktate Berlins weltweit zu. Scheitert das deutsche Va Banque-Spiel, ist selbst ein gravierender Rückschlag auf die deutsche Wirtschaft nicht ausgeschlossen.

    Die Zeit drängt
    Wenige Tage vor dem Brüsseler Sondergipfel zur Eurokrise spitzen sich, befeuert von der eskalierenden Krisendynamik, die nationalen Gegensätze zuwischen den stärksten europäischen Staaten weiter zu. Insbesondere die deutschen Spardiktate stoßen auf immer heftigeren Widerstand derjenigen Länder, die ihretwegen immer tiefer in die Rezession stürzen. Es sei nur noch "eine Woche" übrig, um die Eurozone zu retten, warnte letzten Freitag der italienische Ministerpräsident Mario Monti unter Verweis auf den kommenden Gipfel.[1] Bei dem Treffen der EU-Staats- oder Regierungschefs am 28. und 29. Juni sollen zum wiederholten Male weitere Maßnahmen zur Überwindung der Krise erörtert werden.

    Kampf um die Souveränität
    Der jüngste Schlagabtausch in der Eurozone war von Monti eingeleitet worden, der massive Aufkäufe von Anleihen krisengeschüttelter Staaten durch die Europäische Zentralbank forderte. Die Aufkäufe sollen laut Monti automatisch einsetzen, sobald die Zinsdifferenz ("Spread") zwischen Deutschland und den Krisenstaaten einen bestimmten Schwellenwert übersteigt. Der italienische Regierungschef hofft, mit diesem Vorschlag eine Eindämmung der italienischen Schuldenkrise zu erreichen, die sich in steigender Zinsbelastung und einer fortgesetzten Rezession manifestiert. Durch unbegrenzte Anleiheaufkäufe würde Rom von sinkenden Zinsen profitieren und eine Entspannung der Schuldenkrise in Italien erreichen, ohne die mit einer Inanspruchnahme des EU-Rettungsschirmes EFSF einhergehenden Verluste staatlicher Souveränität in Kauf nehmen zu müssen. In Montis Planspiel sollten die Rettungsfonds EFSF und ESM die EZB "lediglich vor einem Teil der möglichen Verluste aus den Käufen schützen", berichtet die Wirtschaftspresse.[2] Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble kritisierte den Vorstoß umgehend, indem er darauf verwies, dass die europäischen "Rettungsfonds" schon jetzt Staatsanleihen direkt aufkaufen können - allerdings erst nach "Vereinbarung eines entsprechenden Anpassungsprogramms". Schäuble besteht damit auf der Einschränkung der italienischen Souveränität.

    Deutschland als Profiteur
    Die deutsch-italienische Episode illustriert exemplarisch die aktuellen Frontverläufe in der EU: Die Bundesregierung gewährt Unterstützung nur gegen Preisgabe von Souveränität, während die Regierungen der Krisenstaaten sich bemühen, ebendiese Einschränkungen ihrer Souveränität möglichst gering zu halten. Dabei nimmt Berlin, um den Druck zur Souveränitätspreisgabe zu erhöhen, bereitwillig eine weitere Kriseneskalation in Kauf: Bei steigender Zinslast laufe Spanien und Italien die Zeit davon, da sie sich wegen der unerträglich hohen Zinsen "kaum noch am Markt refinanzieren" könnten, konstatiert die Wirtschaftspresse.[3] Für die Bundesrepublik hingegen bringt die Krise auch ökonomisch enorme Vorteile: Deutsche Staatsanleihen gelten als "sicherer Hafen" in Krisenzeiten, Berlin verzeichnet folglich ein äußerst niedriges Zinsniveau. Zudem ist der Euro gegenüber anderen Währungen stark im Wert gefallen, was wiederum der deutschen Exportindustrie zugute kommt. Die Bundesrepublik hat deshalb keinerlei Interesse, die gegenwärtige Konstellation zu ändern, die Deutschlands ökonomisches Übergewicht gegenüber dem Rest der Eurozone immer weiter anwachsen lässt - jedenfalls solange die Verwerfungen an den Finanzmärkten noch kontrollierbar erscheinen. Entsprechend hat Kanzlerin Merkel am Freitag in Rom erneut ernsthafte Konjunkturmaßnahmen blockiert. Das angekündigte Konjunkturpaket im Umfang von 130 Milliarden Euro entpuppt sich als Mogelpackung: Es soll vor allem durch Umschichtungen im EU-Haushalt realisiert werden; dabei werden schon längst eingeplante Investitionsmittel etwa aus den EU-Regionalfonds schlicht umdeklariert.

    Globaler Protest
    Die rücksichtslose Instrumentalisierung der Krisendynamik für machtpolitische Zwecke lässt die Proteste gegen Berlin inzwischen in vielen Ländern nicht nur Europas anschwellen. Auf dem G20-Gipfel in Mexiko seien die "als engstirnig und egoistisch angesehenen Deutschen" für die Eskalation der Eurokrise verantwortlich gemacht worden, hieß es etwa auf Spiegel Online: "Von US-Präsident Barack Obama bis zu den Regierungschefs von Indien, Brasilien, Argentinien und Russland gab es nur vernichtende Urteile über Merkels Politik, die die Weltwirtschaft in die Rezession führe.[4]" Auch die konservative Presse sieht Deutschland in der Rolle des "Krisen-Sündenbocks", die vor allem "angelsächsische Politiker und Medien" an die Wand malten.[5] Tatsächlich gehen inzwischen auch eher linksliberale Medien wie der britische New Statesman zu scharfen Attacken auf die deutsche Kanzlerin über. Die Zeitschrift bezeichnete Merkel vor wenigen Tagen als derzeit gefährlichste Politikerin, die mit ihrer "Manie für Austerität" die Welt in eine "neue Depression" führe. Tiefe Gräben haben sich auch zwischen Washington und Berlin aufgetan, da die Eskalation der Eurokrise die US-Wirtschaft bedroht und die Wiederwahlchancen für US-Präsident Barack Obama schmälert. Auf eine erstarkende Opposition stößt Merkel zudem in Europa, wo Frankreichs neuer Präsident Hollande sich um eine gemeinsame Front mit Rom und Madrid gegen Berlin bemüht. Mitte Juni etwa beschuldigte die konservative spanische Regierung Berlin ungewohnt deutlich, die Krise anzuheizen: Wenn Deutschland "einzelne Länder den Wölfen zum Fraß vorwirft, dann wird das uns alle treffen", warnte Außenminister José Manuel García-Margallo.[6]

    Entmachtung der Peripherie
    Einen Hinweis darauf, wieso die Bundesregierung ihre Isolation in Kauf nimmt, bieten die jüngsten, maßgeblich von Berlin forcierten europäischen Integrationspläne, deren Realisierung die Eurozone zu einer Art Staatsgebilde unter deutscher Hegemonie transformieren und die nationale Souveränität zumindest der schwächeren Euroländer in den Grundfesten erschüttern würde. Den Plänen zufolge wären im künftigen Eurozonen-Staat die Mitgliedsländer nicht mehr in der Lage, eigenständig Kredite aufzunehmen. Alle Ausgaben, die nicht durch eigene Einnahmen gedeckt seien, müssten bei einem zentralen EU-Gremium beantragt werden. Auf EU-Ebene würde "dann gemeinsam entschieden, welches Land in welcher Höhe neue Schulden machen darf", heißt es in Berichten.[7] Der "Genehmigungsprozess" solle von Vertretern der einzelnen Parlamente überwacht werden. Im Gegenzug würden gemeinsame europäische Anleihen, sogenannte Eurobonds, ausgegeben - zur Finanzierung der auf Eurozonen-Ebene genehmigten Schulden. Bislang lehnt Berlin Eurobonds ab, da sie zu steigenden Zinsen bei deutschen Staatsanleihen führten. Die neuen, über diverse Medien verbreiteten Überlegungen entsprechen Vorschlägen, die das deutsche EZB-Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen bereits Ende Mai an die Öffentlichkeit trug. Unlängst griff das US-amerikanische "Wall Street Journal" die Thematik auf. Demnach seien die neuen europäischen "Integrationsbemühungen" Teil eines "Kurswechsels" der deutschen Krisenpolitik; Berlin sende "starke Signale", dass es bereit sei, "seine Einwände gegen Eurobonds aufzugeben", wenn andere europäische Staaten "weitere Machtbefugnisse an Europa" transferierten.[8] In der "New York Times" erläuterte der Ökonom Jacob Kirkegaard: "Wenn die deutschen Steuerzahler für italienische Schulden haftbar sein sollen, dann müssen sie demokratische Mitsprache dabei haben, wie Italien seien Angelegenheiten regelt und deutsches Geld ausgibt."[9] Berlin ist sich demnach durchaus bewusst, dass eine Abkehr von der desaströsen Sparpolitik ökonomisch notwendig ist, will sie aber nur unter vollständiger deutscher Kontrolle vornehmen. Über die Brüsseler Bürokratie strebt die Bundesregierung dabei nicht weniger an als die unmittelbare Aufsicht über den Kern staatlicher Souveränität der Krisenländer - ihre Haushaltsplanung.

    Die Transferunion
    Berlin könnte auf diesem Wege - erzwungen über seine ökonomische Verelendungsstrategie - in der Tat seine Vorherrschaft in Europa zementieren: Deutschland wäre aktuell aufgrund seines niedrigen Haushaltsdefizits von den geforderten Einschränkungen kaum betroffen; es konnte vermittels seiner gigantisch gesteigerten Leistungsbilanzüberschüsse in den letzten Jahren den eigenen Haushalt auf Kosten der Eurozone sanieren. Die extrem gesteigerte, äußerst aggressive Exportausrichtung der BRD wurde erst nach der Einführung des Euro möglich, der den Eurostaaten die Möglichkeit nahm, sich durch Währungsabwertungen der deutschen Konkurrenz zu erwehren. Verstärkend wirkten die von Rot-Grün eingeführten, berüchtigten Hartz-IV-Arbeitsgesetze, die - zugunsten des Exports - das Lohnniveau in Deutschland in Relation zu anderen Eurostaaten immer weiter absenkten. Die Exportoffensiven der deutschen Industrie, die seit der Einführung des Euro einen deutschen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber der Eurozone von rund 800 Milliarden Euro angehäuft haben [10], haben dabei zur Eskalation der Schuldenkrise in der Eurozone maßgeblich beigetragen - denn den Leistungsbilanzüberschüssen der von einem prekarisierten Niedriglohnsektor profitierenden deutschen Exportindustrie entsprechen logischerweise Defizite vor allem der inzwischen teilweise deindustrialisierten südlichen Euroländer.

    Rückschlag möglich
    Der Berliner Machtpoker um die Zementierung der Vorherrschaft in Europa ist jedoch nicht ohne Risiken auch für Deutschland selbst. Einen ersten Ausblick auf mögliche Verwerfungen erlauben jüngste Konjunkturdaten. Mit ihrem Spardiktat in der Eurozone lässt die Bundesregierung auch die wichtigsten Exportmärkte der deutschen Industrie trockenlegen. So gingen im vergangenen Monat die Exportaufträge der deutschen Industrie so stark zurück wie seit April 2009 nicht mehr, als sich Deutschland mitsamt der gesamten Eurozone und einem Großteil der Weltwirtschaft in einer schweren Rezession befand. Auf rasche Abkühlung deutet auch der Einkaufsmanagerindex, der auf rezessionsverheißende 48,5 Punkte abfiel: "In den deutschen Unternehmen setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass die Turbulenzen in der Euro-Zone die Geschäftsaussichten für die zweite Jahreshälfte 2012 bereits beschädigt haben", erläutert das Markit-Institut.[11] Auch der Ifo-Geschäftsklimaindex, der die Zukunftsprognosen deutscher Unternehmen erfasst, sank im Juni im zweiten Monat in Folge.

    Kollateralschaden
    Einen weiteren Risikofaktor stellt der instabile Finanzsektor dar. Bei weiter anhaltender Weigerung Berlins, die Konjunktur per Kreditfinanzierung zu stützen, droht eine irreversible Eskalation der Eurokrise, bei der ein kollabierendes Finanzsystem die gesamte Weltwirtschaft in eine schwere Depression stürzen würde. Die Folgen könnten die sozioökonomischen Verwerfungen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre noch übersteigen. Eine solche Krisenkaskade liefe bei Überschreiten der Belastungsgrenze des ohnehin zerrütteten Weltfinanzsystems in ungeheurer Geschwindigkeit ab, was wirksame Gegenmaßnahmen ab einem bestimmten Punkt unmöglich machen würde. Schon geringe Ereignisse wie ein Platzen der Verhandlungen beim bevorstehenden EU-Gipfel könnten einen irreversiblen Schock auslösen. Berlin spielt ein Machtspiel, bei dem es um alles oder nichts geht: Für die Krisenländer Europas steht nichts Geringeres als ihre staatliche Souveränität auf dem Spiel; für Deutschland geht es um die verfestigte Vorherrschaft über Europa. Als Kollateralschaden nimmt Berlin sogar eine Weltwirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes in Kauf.


    [1] Mario Monti: we have a week to save the eurozone; Latest news, sport and comment from the Guardian | The Guardian 22.06.2012
    [2] EZB soll für Euro-Retter Bonds aufkaufen; http://www.ftd.de 21.06.2012
    [3] Spanien und Italien läuft die Zeit davon; Handelsblatt.com - Nachrichten aus Wirtschaft, Finanzen, Politik, Unternehmen und Märkten 21.06.2012
    [4] Drei gegen Deutschland; SPIEGEL ONLINE - Nachrichten 22.06.2012
    [5] Deutschlands neue Rolle als Krisen-Sündenbock; Nachrichten und aktuelle Informationen aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur- DIE WELT 11.06.2012
    [6] Greek Election on Sunday Looms Large, whilst Rajoy Battles ECB for Loans; Leader - News, Sport, Spanish Property, Advertising, Classifieds - Costa Blanca, Costa del Sol, Costa Calida, Costa de Almeria, Spain 19.06.2012
    [7] Der Traum vom neuen Europa; SPIEGEL ONLINE - Nachrichten 12.06.2012
    [8] Germany Signals Crisis Shift; online.wsj.com 03.06.2012
    [9] German Rectitude Has Its Risks; The New York Times - Breaking News, World News Multimedia 15.06.2012
    [10] s. dazu Die deutsche Transferunion
    [11] Schlechte Stimmung in deutscher Industrie; http://www.ftd.de 21.06.2012

    Informationen zur Deutschen Außenpolitik

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    Es scheint fast so als ob Schäuble doch Recht behält mit seiner Fiskalunion, die er auf dem European Banking Congress bereits in Aussicht gestellt hat.


    Ab Minute 10:30

    Dieses hochriskante Spiel der Bundesregierung, bei dem billigend in Kauf genommen wird das die eigene Wirtschaft geschädigt wird, verstößt klar gegen den Amtseid. Grundgesetz Artikel 56: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, ...". Merkel und Schäuble sind jetzt zum Erfolg verdammt. Bis jetzt ging das Spiel voll auf. Die Euro-Krisenländer sind auf Deutschland angewiesen, dass sie in die Verelendung treibt...
     
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  2. 3. Juli 2012
    AW: Showdown im deutschen Machtpoker am 28./29. Juni 2012: Alles oder nichts

    Der Aufschub 02.07.2012

    BERLIN/BRÜSSEL
    (Eigener Bericht) - Erstmals seit Beginn der Eurokrise ist Berlin beim EU-Gipfeltreffen Ende letzter Woche mit seinen Austeritätsforderungen gescheitert. Einer Allianz vor allem Frankreichs, Italiens und Spaniens ist es gelungen, der Bundesregierung substanzielle Zugeständnisse abzuringen. Insbesondere sind europäische Finanzhilfen für Krisenstaaten künftig nicht unumstößlich an Souveränitätsverzicht gebunden. Auch wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zumindest vorerst den aktuellen Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker nicht aus dessen Amt verdrängen. Man habe immerhin "eine Schlacht gewonnen", heißt es in der spanischen Presse. Der Teilsieg im Kampf gegen die deutschen Spardiktate konnte jedoch nur mit enormem Druck und angesichts eines unmittelbar drohenden Zusammenbruchs der Eurozone erzielt werden. Berlin hat bereits angekündigt, keinen weiteren Schritt weichen zu wollen: Man werde den "Rettungsfonds" ESM auf keinen Fall "zu einem Selbstbedienungsladen" werden lassen, erklärt der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Eine zentrale Forderung Berlins wird jetzt von Paris erfüllt: Der französische Staatspräsident hat mitgeteilt, den Fiskalpakt ratifizieren zu wollen - ohne die im Wahlkampf von ihm verlangten Nachverhandlungen.

    Unterschätzt
    In den deutschen Medien wird das Ergebnis des EU-Gipfels Ende letzter Woche überwiegend als Niederlage von Bundeskanzlerin Angela Merkel interpretiert. Das Internetportal Spiegel Online titelte etwa, der Brüsseler Verhandlungspoker habe geendet in einer "Nacht, in der Merkel verlor" [1] - Italien und Spanien hätten sich "fast vollständig" durchgesetzt. Die Tageszeitung Die Welt schrieb von einer deutschen "Niederlage in einer historischen Nacht".[2] Die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung übte derweil scharfe Kritik an der Taktik der Kanzlerin; Merkel habe eine "kommunikative Misere" zu verantworten, "in die sie sich selbst und das ganze Land bugsiert hat."[3] Nur die staatsnahe "Deutsche Welle" lobte, Merkel sei zwar "in der EU isoliert", halte jedoch bei der Europapolitik "trotz erheblichen Widerstands weiterhin ihren Kurs".[4] Aus Diplomatenkreisen hieß es gegenüber dem Sender, die Spannungen insbesondere zwischen Berlin und Paris hätten zugenommen. "Wir unterschätzten Hollande," erklärte ein deutscher Diplomat, der darauf hinwies, dass der französische Staatschef weiterhin auf der Einführung gemeinsamer europäischer Anleihen - sogenannter Eurobonds - besteht: "Wir dachten, er würde nach den Wahlen nachgeben."

    Souveränitätsverzicht aufgeweicht
    Die Gipfelbeschlüsse vom Freitag, die die Finanzmärkte mit einem Kursfeuerwerk goutierten, haben tatsächlich ein zentrales Dogma der deutschen Krisenpolitik unterminiert: Das deutsche Junktim zwischen Finanzhilfen und fortschreitendem Souveränitätsverzicht wurde zumindest aufgeweicht. So sollen künftig die Mittel des ab Juli einsatzbereiten "Rettungsschirms" ESM (European Stability Mechanism) dazu verwendet werden können, Banken direkt zu rekapitalisieren, während die Kredite des Vorgängerfonds EFSF bislang nur unter bindenden Auflagen an Staaten vergeben wurden. Dadurch stieg die Staatsverschuldung der betroffenen Länder, die zugleich verbindliche Politikvorgaben aus Brüssel akzeptieren mussten. Die neue Regelung, bei der keine verbindlichen Auflagen für die betroffenen Regierungen notwendig sind, kommt den Forderungen Spaniens sehr weit entgegen, das rund 100 Milliarden Euro zur Stabilisierung seines Finanzsektors benötigt. Berlin hatte auf strikte Auflagen wie eine von Brüssel überwachte Restrukturierung des spanischen Finanzsektors gedrängt; dabei wäre es wohl zum Verkauf vieler Industriebeteiligungen spanischer Banken gekommen. Die deutsche Linie, die auf Souveränitätsverzicht der in die Krise geratenen Staaten zielt, ist auch durch den zweiten wichtigen Gipfelbeschluss unterminiert worden. Künftig können die europäischen Krisenstaaten die Mittel der "Rettungsschirme" anzapfen und diese etwa zum Ankauf ihrer Anleihen nutzen, ohne dass zusätzliche Sparauflagen notwendig werden. Schließlich konnte sich die Bundesregierung auch in einer wichtigen Personalfrage nicht durchsetzen: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wurde nicht zum Nachfolger des Chefs der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, ernannt.

    Deutsche Teilerfolge
    Dennoch konnte Berlin mehrere Einschränkungen durchsetzen. Die am Fiskalpakt beteiligten Staaten müssen dessen Vorgaben erfüllen - und dazu gehört aufgrund deutschen Drucks vor allem strikte Sparpolitik Merkels Diktum, wonach "Haftung und Kontrolle zusammengehören", lag auch dem aktuellen Gipfelbeschluss über eine europäische Bankenaufsicht zugrunde, die bis Jahresende aufgebaut werden soll. Erst wenn dieses Kontrollgremium, an dem die EZB beteiligt sein soll, seine Arbeit aufnimmt, wird der ESM Banken direkt rekapitalisieren können. Koalitionspolitiker beeilten sich zu betonen, dass die neuen Regelungen immer noch eine intensive deutsche Kontrolle über die Krisenländer ermöglichen. "Der Bundestag hat immer das letzte Wort", erklärt Unionsfraktionschef Volker Kauder.[5] Es werde keine ESM-Leistungen ohne "eigene Anstrengungen" der Empfänger geben. Dies gelte sowohl für den Aufkauf von Staatsanleihen wie für die direkte Rekapitalisierung von Banken: "Zu einem Selbstbedienungsladen wird der ESM mit uns nicht werden." Manche Stimmen wollten dies nicht gelten lassen. So hieß es etwa, Deutschland habe nur "die Aussicht" darauf erhalten, "dass die Europäische Zentralbank die Bankenaufsicht übernimmt": "Genau die Europäische Zentralbank, in der die Vertreter der Bundesbank seit Monaten immer wieder überstimmt werden."[6] Die EU steuere auf eine "Schuldenunion" zu.[7] Einen eindeutigen Erfolg hat Berlin jedoch im Streit mit Paris um den Fiskalpakt erzielt. Obwohl der französische Präsident Hollande in Sachen Eurobonds weiterhin auf Konfrontationskurs zu Merkel bleibt, hat er nach dem Gipfel angekündigt, den Fiskalpakt ratifizieren zu lassen. Ursprünglich hatte er dies von intensiven Nachverhandlungen abhängig gemacht. Der Sinneswandel des Präsidenten in dieser bedeutenden Frage sei "nach den Beschlüssen des EU-Gipfels" erfolgt, hieß es in der Wirtschaftspresse.[8]

    Den Teufelskreis durchbrechen
    Dabei konnten die Berlin mühsam abgerungenen Zugeständnisse nur durch ein Wechselspiel aus enormem diplomatischem Druck und der sich zuspitzenden Lage auf den Finanzmärkten erreicht werden. Die Regierungschefs Spaniens und Italiens hatten mit der vollständigen Blockade aller Gipfelbeschlüsse gedroht, sollten keine Schritte zur Entspannung der Schuldenkrise in Südeuropa eingeleitet werden. Italiens Premier Mario Monti sprach gar von Rücktritt und vom ungeordneten Zusammenbruch der Eurozone, falls in Italien euroskeptische Kräfte an die Regierung kämen.[9] Tatsächlich wäre eine unkontrollierbare Eskalation der europäischen Schuldenkrise - inklusive des Zerfalls der Eurozone - bei einem Scheitern des Brüsseler Gipfels nicht auszuschließen gewesen: Spanien und Italien stehen aufgrund der von Berlin erzwungenen Austeritätspolitik ökonomisch mit dem Rücken zur Wand; das mittelfristig unhaltbare Zinsniveau der Staatsanleihen beider Staaten geht mit einer eskalierenden Rezession einher, die eine Haushaltskonsolidierung unmöglich und finanzielle Erleichterungen unerlässlich macht. Europas Banken und Staaten sind in einer fatalen Krisensymbiose verfangen: Im Falle einer Staatspleite würde der Bankensektor aufgrund der von ihm erworbenen Staatsanleihen unweigerlich mit in den Abgrund gerissen; die Staaten müssten ihn, um dies zu verhindern, mit weiterer Schuldenaufnahme stützen. In der Gipfelerklärung ist deshalb davon die Rede, dass die beschlossene erleichterte Defizitfinanzierung für Staaten und Banken von "ausschlaggebender Bedeutung" seien - um "den Teufelskreis zwischen Banken und Staatsanleihen zu durchbrechen".[10]

    "Eine Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg"
    Berlin hätte bei Beibehaltung seiner Linie tatsächlich eine extreme Verschärfung der europäischen Schuldenkrise ausgelöst, die unabsehbare und unkontrollierbare Konsequenzen nach sich zu ziehen drohte. Sein Austeritätskurs hat nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch machtpolitisch einen schweren Schlag erhalten: Konfrontiert mit den katastrophalen Konsequenzen eines fortgesetzten Spardiktats, musste Merkel die besagten Zugeständnisse eingehen. Die Kanzlerin habe "tief in den Abgrund geschaut", heißt es in einem Kommentar [11] - und erst angesichts eines möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Kollapses der Eurozone teilweise nachgegeben. Der Krisengipfel letzte Woche hat dabei nur einen kurzfristigen Aufschub in der Krisendynamik bewirkt. Der ESM ist mit 500 Milliarden Euro deutlich zu klein dimensioniert, um dauerhaft den europäischen Finanzsektor zu stabilisieren und das Zinsniveau der südeuropäischen Staaten niedrig zu halten. Als wichtigstes Gipfelresultat kann jedoch gewertet werden, dass sich die politische Machtkonstellation in der EU zuungunsten Berlins verschoben hat: Einer Allianz aus Frankreich, Italien und Spanien ist es zum ersten Mal seit Beginn der Krise gelungen, der Bundesregierung substanzielle Zugeständnisse abzuringen. Man habe zwar nicht den "Krieg", aber immerhin "eine Schlacht gewonnen", heißt es etwa in der spanischen Presse - wenngleich die Kämpfe "noch Jahre dauern" würden. Es fehle der EU vor allem noch "ein solides Abkommen und eine politische Führung, um nun rasch Eurobonds auszugeben, die Investoren wirklich vom Spekulieren gegen die schwächsten der Euro-Länder abhalten können".[12] Eine deutsche Zustimmung zur Einführung von Eurobonds hat die deutsche Kanzlerin jüngst definitiv ausgeschlossen.

    [1] Die Nacht, in der Merkel verlor; SPIEGEL ONLINE - Nachrichten 29.06.2012
    [2] Merkels Niederlage in einer historischen Nacht; Nachrichten und aktuelle Informationen aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur - DIE WELT 29.06.2012
    [3] Ich bin doch hier, was wollt ihr mehr? Aktuelle Nachrichten online - FAZ.NET 29.06.2012
    [4] Merkel isolated at EU summit; TOP STORIES | DW.DE 29.06.2012
    [5] "Der Rettungsfonds wird kein Selbstbedienungsladen"; SPIEGEL ONLINE - Nachrichten 30.06.2012
    [6] Die Schuldenunion rückt näher; Aktuelle Nachrichten online - FAZ.NET 29.06.2012
    [7] Zentralwahn; Aktuelle Nachrichten online - FAZ.NET 30.06.2012
    [8] Hollande lenkt bei Fiskalpakt ein; http://www.ftd.de 29.06.2012
    [9] Marios Horrorshow; SPIEGEL ONLINE - Nachrichten 29.06.2012
    [10] "Dammbruch zulasten deutscher Steuerzahler"; Aktuelle Nachrichten online - FAZ.NET 29.06.2012
    [11] Merkel hat tief in den Abgrund geschaut; Aktuelle Nachrichten - Inland Ausland Wirtschaft Kultur Sport - ARD Tagesschau | tagesschau.de 29.06.2012
    [12] Ganada la batalla, falta la guerra; EL MUNDO - Diario online líder de información en español 29.06.2012

    Informationen zur Deutschen Außenpolitik

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    Die verbale Militarisierung der Euro-Krise, zeigt wie es um den Frieden in Euro-Zone bestellt ist.

    Die Vergemeinschaftung der Schulden, die Euro-Bonds, ohne Kontrollen ist eine Einladung zum Missbrauch. Nur wer Schulden machen will, sich aber keine Schulden leisten kann, fordert so etwas.

    Darüber hinaus ist äußerst fragwürdig, ob Euro-Bonds die Krise überhaupt beenden können.
    Marode Finanzinstitute müssten endlich in die Insolvenz entlassen werden, damit die Anleger wieder Vertrauen gewinnen. Die Finanzinstitute vertrauen sich ja nicht mal selbst und lagern ihre Gelder über Nacht bei der EZB ein!

    Hinzu kommt, dass im Augenblick das Barrel WTI $87 kostet. Ein nicht zu verachtender Faktor, wenn man bedenkt, wie abhängig die Wirtschaft vom Erdöl ist. Beim Ausbruch der Finanzkrise lag der Preis für ein Faß bei $147 und stürzte dann auf $40 ab. Hohe Ölpreise haben schon immer Rezessionen ausgelöst. Wir sind in einer Rezession und der Ölpreis ist trotzdem hoch. Normalerweise sinkt er bei anhaltender Rezession, wegen der einbrechenden Nachfrage. Peak Oil lässt grüßen...
     
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